"gemeinsam Wandel gestalten"

Diskussionspapier zum Kongress Armut und Gesundheit 2023

(Stand: 07.07.2022)

Hintergrund: Zusammenhang Armut und Gesundheit 

Studien[1] belegen: Die soziale Lage hat einen starken Einfluss auf die Gesundheit und resultiert in ungleich verteilten Gesundheitschancen. Eine soziale Benachteiligung geht mit größeren Gesundheitsbelastungen, wie z. B. schlechteren Lebensbedingungen und einem riskanterem Gesundheitsverhalten, einher. Der Zusammenhang von Sozialstatus und Gesundheit ist dabei in allen Altersstufen erkennbar und zieht sich durch alle Lebensphasen.

Noch nie wurde, auf der Datenbasis des Mikrozensus, eine höhere Armutsquote in Deutschland gemessen als 2020. 16,1 Prozent der Bevölkerung bzw. 13,4 Millionen Menschen sind von Armut betroffen – “ein neuer trauriger Rekord” (Der Paritätische Gesamtverband, 2021.) Die Bundesregierung “sieht insbesondere die Verfestigung benachteiligter materieller Lagen als Signal, ihre bisherige Politik für die Integration von Langzeitarbeitslosen und Langzeitleistungsbeziehenden sowie für bessere Entlohnung im unteren Lohnsegment unter Wahrung der Tarifautonomie fortzusetzen“ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2020, S.6).

Die Verringerung gesundheitlicher Ungleichheiten einschließlich derer, die durch die Pandemie verschärft wurden, erfordert eine langfristige Politik, bei der die Chancengleichheit im Mittelpunkt steht, betont Prof. Dr. Michael Marmot daher auch in seinem aktuellen Review “Build back fairer” (Marmot, 2021). Hierfür setzt sich der Kongress seit 28 Jahren ein und bietet auch im März 2023 eine Plattform des Austausches.


[1] Eine Übersicht aktueller Publikationen zum Zusammenhang zwischen Armut und Gesundheit findet sich unter www.armut-und-gesundheit.de/daten.

Diesjähriges Motto: Gemeinsam Wandel gestalten 

Bereits vor Pandemiebeginn stellten Soziolog*innen fest, dass „die Krise in aller Munde ist und das Aufgebot an möglichen Krisen so zahlreich, dass man sich kaum entscheiden kann, warum es nicht weiter gehen kann wie bisher“ (Becker et. Al. 2019, S.V). Die COVID 19-Pandemie hat die Ungleichheit in der Gesellschaft national (Butterwegge 2022a, S. 100-118) sowie auch global (Oxfam 2022) verschärft. Dass die Auswirkungen der Pandemie vorrangig benachteiligte Gruppen treffen, wurde vielfach belegt (z. B. Hoebel et al. 2022). Durch den Ukraine-Krieg werden Systeme, die durch die Pandemie bereits überlastet waren, zusätzlich gefordert. Während durch den Krieg enorme Preissteigerungen insbesondere in den Bereichen Energie und Lebensmittel zu verzeichnen sind, resümiert Prof. Christoph Butterwegge (2022b): „Die soziale Ungleichheit, die während der Pandemie zugenommen hat, wächst gerade noch weiter. Das liegt vor allem an den Konsequenzen, die man aus dem Krieg zieht“. Weltweit werden Nahrungsmittel durch den Krieg in der Ukraine sowie den fortschreitenden Klimawandel noch knapper, was für Länder, wie beispielsweise Äthiopien, Nigeria, Südsudan oder den Jemen zu einem weiteren Anstieg von Hungertoten führt (Vereinte Nationen 2022).

Auch andere gesundheitliche Folgen des Klimawandels nehmen weiter zu und wir[2] sind herausgefordert, schnelle Lösungen für komplexe Probleme zu entwickeln. „Die kumulative wissenschaftliche Evidenz ist eindeutig: Der Klimawandel bedroht menschliches Wohlergehen und planetare Gesundheit. Durch jede weitere Verzögerung hinsichtlich konzentrierter Maßnahmen zur Anpassung und Abschwächung wird ein kurzes und sich rasch schließendes Zeitfenster verpasst werden, um eine lebenswerte und nachhaltige Zukunft für alle zu sichern“ (IPCC 2022, zit. nach CPHP 2022, S.3).


[2] Das "wir" darf hier auf verschiedene Arten gelesen werden. In einem sehr weiten Sinn stehen wir als Menschheit vor der Herausforderung Gesundheit und damit Leben(squalität) zu erhalten und zu fördern. Dies gilt sowohl global betrachtet als auch hinsichtlich zukünftiger Generationen, wobei mit entsprechenden Machtverhältnissen und Privilegien auch ein unterschiedliches Maß und unterschiedliche Möglichkeiten Verantwortung zu übernehmen einhergehen. Ein enger gefasstes "wir", welches sich auf die Public Health Community, bzw. Teilnehmende des Kongresses bezieht, setzt an den spezifischen Situationen an, aus denen sich Handlungsmöglichkeiten und -erfordernisse ergeben, die es zu entdecken und nutzen gilt. Beispielsweise sehen "wir" - in diesem Fall konkret als Kongressteam - unseren Beitrag unter anderem darin, bewusst zu diesen Diskussionen einzuladen und den Kongress 2023 unter diesem Fokus anzubieten.

Was können wir dem entgegensetzen?  

In einer Zeit, die durch Unsicherheit, Komplexität, Widersprüchlichkeit und immer lediglich vorläufigem Wissen geprägt ist, verspricht Resilienz Halt, Hoffnung und eine Wiedererlangung von Kontrolle (Rungius et al. 2018, S. 38,39). „Anstatt Unsicherheit also aus der Welt schaffen zu wollen, denkt der Resilienzbegriff im Sinne von Widerstands- und/oder Anpassungsfähigkeit ganz konsequent die Möglichkeit des Umgangs mit Unsicherheit“ (Rungius et al. 2018, S. 39).  

Ursprünglich aus der Materialwissenschaft stammend, hat sich das Konzept beispielsweise in der Psychologie sowie den Sozialwissenschaften oder der Ökologie etabliert und wird jeweils unterschiedlich ausdifferenziert (Weiß et al. 2018, S. 13-16). Während soziale Resilienz auf die Handlungsfähigkeit von Akteur*innen im Kontext von Politik und Macht abzielt, geht es beim sozial-ökologischen Resilienzkonzept um Systementwicklung, wobei stets fördernde Faktoren und Kapazitäten identifiziert und gestärkt werden (Bobar, Winder 2018, S. 88-92). Die fördernden Faktoren unterscheiden sich je nach Anwendungsgebiet, wobei häufig soziale Beziehungen und Netzwerkstrukturen benannt sind (Bobar, Winder 2018, S. 91). Ebenso resilienzförderlich sind Redundanzen, also das Vorhalten verschiedener ähnlicher Elemente, damit ein System nicht zusammenbricht, wenn eines der Elemente ausfällt (Christmann et al. 2018, S. 188). Dies steht jedoch im Widerspruch zum wirtschaftlichen Effizienzparadigma (Roth 2020). In neueren Beschreibungen werden auch Kommunikation und Transparenz als zentrale Voraussetzungen benannt: „Resilienz kann Organisationen, Institutionen, sozialen Funktionssystemen und Gesellschaften nur dann attestiert werden, wenn sie Debatten über Werte, über ihre Identität und über ihre Ziele ermöglichen und stimulieren“ (Meyen, Vogt 2018, S. XI).

Resilienz zielt also auf die Stärkung und Bewahrung von Systemen ab. Dabei kommt man nicht daran vorbei zu fragen, was überhaupt bewahrenswert ist, um nicht mit der Förderung von Resilienz unkritisch am Status quo festzuhalten (Rungius et al. 2018, S. 42). Im Sinne eines reflektierten Resilienzstrebens kann eine Krise Anlass für die Frage geben, wie wir leben wollen und was wir dafür ändern müssen. Krisen bergen immer auch die Chance auf Veränderungen und oftmals die Möglichkeit die ‚Gunst der Stunde‘ (window of opportunity) für Veränderungen zu nutzen (z.B. Energiekrise – erneuerbare Energien). Diese gilt es herauszufinden. Dabei ist eine wesentliche Forderung zur Bewältigung von Krisen die sinnhafte Einbeziehung der lokalen Bevölkerung in Maßnahmen der Bewältigungsprozesse (Norris et al. 2008). In diesem Sinne verwendet, gehen Resilienz und Transformation Hand in Hand. „Voraussetzung hierfür ist, dass die jetzt ergriffenen Maßnahmen nicht lediglich auf eine möglichst schnelle Wiederherstellung des status ex ante abzielen, sondern eine weitsichtige und nachhaltige Weiterentwicklung unserer Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme vorangetrieben wird“ (Roth 2020).

In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Was wollen wir bewahren, was zum Besseren ändern?   

Die Komplexität der Problemstellung erfordert die interdisziplinäre und intersektorale Zusammenarbeit, wie sie etwa der Health in All Policies-Ansatz fordert. Für die Bewältigung der Zukunft ist eine stärkere Vernetzung zwischen Zivilgesellschaft, Praxis, Wissenschaft und Politik, sowie auch verschiedener Fachdisziplinen untereinander unablässig.

In diesem Sinne gilt es Netzwerke aufzubauen und zu pflegen, um gemeinsam und kritisch Zustände zu hinterfragen und Ziele festzulegen, um sich darin gegenseitig zu unterstützen. Gerade das Streben nach einer sozial-ökologischen Transformation macht dies deutlich. Gesündere Verhaltensweisen und die Schaffung gesundheitsförderlicher Rahmenbedingungen können dazu beitragen den CO2-Ausstoß zu verringern. Umgekehrt trägt die Verringerung des CO2-Ausstoßes zum Erhalt unserer Lebensgrundlage und somit unserer Gesundheit bei. Dies ist nur ein Beispiel, welche Rolle Gesundheit bei der sozial-ökologischen Transformation zukommt. Die Identifizierung gemeinsamer Ziele mit anderen Disziplinen ermöglicht es uns einerseits, Synergieeffekte zu nutzen (The Lancet 2020) und andererseits eine gemeinsame Stimme zu stärken.  

Somit bleibt zu fragen:

  • In welcher Welt wollen wir leben? Was sind die Werte und Ziele, an denen wir unser Handeln ausrichten wollen?
  • Welche Veränderungen und welche Anreize braucht es für mehr gesundheitliche Chancengleichheit?
  • Was können wir dafür tun, mit unseren jeweiligen Kompetenzen und in unseren jeweiligen Positionen?
  • Und wie können wir uns gegenseitig besser darin unterstützen?

Dazu will der Kongress (s)einen Beitrag leisten und lädt ein, gelungene Beispiele oder gute Ideen miteinander zu teilen und zu diskutieren. Außerdem bietet der Kongress Raum, um über Hindernisse und Barrieren in der eigenen Arbeit zu sprechen, diese zu reflektieren und gemeinsam nach Lösungsstrategien zu suchen.  

Ottawa Charta als Leitstern  

Wie in den vergangenen Jahren bildet die Ottawa-Charta den inhaltlichen Anker des Kongressprogrammes. Sie definiert fünf Handlungsfelder:  

Als zentrale Grundlage wird die Entwicklung einer gesundheitsförderlichen Gesamtpolitik benötigt, die die Belange aller Menschen berücksichtigt: „Gesundheit muss auf allen Ebenen und in allen Politiksektoren auf die politische Tagesordnung gesetzt werden“, heißt es dazu in der Charta (WHO, 1986, S.3). 

Wie sehr Gesundheit als gemeinschaftliche Aufgabe in allen Politik- und Gesellschaftsbereichen verstanden werden muss, zeigte sich deutlich in den zwei Jahren der COVID 19-Pandemie. In der akuten COVID 19-Krise wurde Gesundheitsschutz allen Politikfeldern übergeordnet. Auch in Krisenzeiten muss es möglich sein, dass Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention im politischen Fokus bleiben und Menschen mit besonderen Armuts- und Gesundheitsrisiken priorisiert werden. Menschen müssen vor allem in Krisenzeiten ihr Vertrauen in öffentliche Institutionen erhalten und sich durch diese gestärkt und unterstützt fühlen können (Raimund Geene, Kongress Armut und Gesundheit 2022, „Was jetzt zählt...Kinder und Jugendliche im Blick“). Public Health ist hier als Schnittstelle zu verstehen in der „Öffentlichen Sorge um die Gesundheit aller“ (Zukunftsforum Public Health, 2019).

Health in All Policies (HiAP) ist als Weiterentwicklung der Ottawa Charta der Gesundheitsförderung zu verstehen mit dem Ziel, Gesundheit als Leitbild in allen politischen und gesellschaftlichen Handlungsfeldern zu verankern und die Auswirkungen von politischen Entscheidungen auf Gesundheit und Gesundheitssysteme zu berücksichtigen und schädliche Auswirkungen auf Gesundheit zu vermeiden (Zukunftsforum Public Health, 2019).  

Bremen hat als erstes Bundesland den HiAP-Ansatz seit 2019 im Koalitionsvertrag verankert, mit dem Ziel der ressortübergreifenden Zusammenarbeit in den Bereichen Bildung, Stadtplanung und Soziales. Am Beispiel von Bremen konnte beim letzten Kongress eindrücklich aufgezeigt werden, dass Kommunen mit stabilen Netzwerken und stadtteilbezogenen Unterstützungsangeboten in der Covid-19 Pandemie Bevölkerungsgruppen rechtzeitig und effektiver geschützt werden konnten. In den benachteiligten Bremer Quartieren fanden während der Covid-19 Pandemie Gesundheitsfachkräfte Zugang zu schwer erreichbaren Bevölkerungsgruppen und konnten diese über Hygiene- und Infektionsschutzmaßnahmen und Impfangebote informieren und erreichte damit auch eine hohe Impfquote für die Corona-Schutzimpfung (Sonja Wagner, Kongress Armut und Gesundheit 2022, „HiAP in Deutschland – Wie weiter?”). 

Das bedeutet auch, dass in die handlungsfeldübergreifende Strategie des HiAP-Ansatzes regierungspolitische und gesellschaftliche Ansätze („Whole-of-Government“ und „Whole-of-Society-Approach“) mit einzubeziehen sind, indem politische Führung und gesellschaftliches Engagement sich gegenseitig stärken und gemeinsam wirken, auf gesunde Lebensverhältnisse ausgerichtet sind, um so in Krisen gemeinsam reagieren zu können. HiAP ist politischer Rahmen und Vision zugleich für eine Public Health-Strategie in Deutschland und stellt die Grundlage dar, um die gesundheitlichen Herausforderungen durch weitere Krisen zu bewältigen. Damit trägt HiAP zum Erhalt sozialer Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Friedens bei (Zukunftsforum Public Health, 2019). 

Weiterhin muss es das Ziel sein, gesundheitsfördernde Lebenswelten zu schaffen. Die Vielfalt und Spezifität der Lebenswelten und Bedürfnisse ergibt sich aus der Unterschiedlichkeit der Menschen und ihrer Lebenssituationen. Die ganz direkten Lebenswelten beeinflussen unsere Gesundheit und müssen daher aktiv gesundheitsförderlich gestaltet werden. 

Lebenswelten wie Kitas, Schulen, Werkstätten für Menschen mit Behinderung, Pflege- oder Seniorenheime sind oft Orte der Struktur und Sicherheit für die Menschen, die dort leben und teilhaben. In der COVID 19-Pandemie waren sie oft stark betroffen (z. B. Besuchsmöglichkeiten in Pflege- und Seniorenheimen) und standen dauerhaft in der Öffentlichkeit (Schließungs- und Testkonzepte in Schulen und Kitas). Mit dem Start des Krieges in der Ukraine standen Schulen erneut im Mittelpunkt. Entweder kamen geflüchtete Kinder über private Kontakte mit in den Unterricht oder wurden zentral gesteuert in Willkommensklassen aufgenommen. Schulen und kommunale Aufnahmeeinrichtungen müssen zeigen, was aus den Erfahrungen der Jahre 2015/16 unter neuen Vorzeichen gemacht werden kann.

Gerade steht aber auch die Bildung oftmals im Fokus und es geht darum, nicht nur aktiv auf akute Krisen einzugehen, sondern auch darum, die Bevölkerung (aus-)zubilden, besser mit zukünftigen Krisen umzugehen oder diese gar nicht erst aufkommen zulassen. So geht es in Schulen, Volkshochschulen und anderen Bildungseinrichtungen darum, Zusammenhänge der Klimaveränderung und der Gesundheit und des gesellschaftlichen Miteinander breit in der Bevölkerung erfahrbar und begreifbar zu machen. Grundsätzlich ist Bildung und deren vielfältige Orte und egal ob formell oder informell ein gewaltiger Hebel, wenn es darum gehen soll, die gesundheitliche Chancengleichheit in Deutschland und weltweit zu verbessern. Hier zu investieren und den (pandemiebedingt zunehmenden) ungleich verteilten (Bildungs-)Chancen etwas Wirksames entgegenzusetzen, lohnt sich!

Die einzelnen Lebenswelten bieten auf der einen Seite eine Struktur, die resilienzstärkend wirken kann und den Umgang mit Unsicherheit für die einzelne Person unterstützt. Auf der anderen Seite sind diese Orte auch selbst von großer Unsicherheit betroffen und müssen einen resilienten Umgang damit finden. In der Ottawa Charta heißt es zu den Lebenswelten: „Die sich verändernden Lebens-, Arbeits- und Freizeitbedingungen haben entscheidenden Einfluss auf die Gesundheit. Die Art und Weise, wie eine Gesellschaft die Arbeit, die Arbeitsbedingungen und die Freizeit organisiert, sollte eine Quelle der Gesundheit und nicht der Krankheit sein“ (WHO 1986). Mit den Daten zu immer weiter steigenden Zahlen von Menschen mit psychischen Erkrankungen und Daten zu Beeinträchtigung psychosozialer Entwicklungen sind die Lebenswelten ein zentraler Ort, um Public-Health Maßnahmen umzusetzen.

Darüber hinaus tragen auch die Menschen im direkten Umfeld maßgeblich zur Gesundheit bei. Daher gilt es gesundheitsbezogene Gemeinschaftsaktionen zu stärken. Unterstützungsstrukturen wie Nachbarschaftsnetzwerke, Selbsthilfe oder auch vertrauensvolle stärkende Communities sowie gemeinsame Aktivitäten zur selbstbestimmten Gestaltung der Umwelt gilt es zu fördern und dafür auch entsprechende Ressourcen bereitzustellen.  

„Gesundheitsförderung wird realisiert im Rahmen konkreter und wirksamer Aktivitäten von Bürger[*inne]n in ihrer Gemeinde: in der Erarbeitung von Prioritäten, der Herbeiführung von Entscheidungen sowie bei der Planung und Umsetzung von Strategien“, so wird in der Ottawa Charta die Bedeutung der gesundheitsförderlichen Gemeinschaftsaktionen hervorgehoben. Während der Pandemie konnte diese oft nur digital erlebt werden. Viele kommunale Begegnungsstätten waren geschlossen, menschliche Begegnungen galten oftmals gleichzeitig als Infektionsrisiko. Für viele bedeutete dies einen Rückzug in die Häuslichkeit, so unterschiedlich diese auch aussah. Der öffentliche Raum als Begegnungsort wird nach den Lockdowns erst wieder erforscht und gemeinsam gestaltet. Doch auch wenn Begegnungen schwierig waren, so waren die letzten zwei Jahre doch auch von großer Solidarität und zivilgesellschaftlichem Engagement geprägt: bei der Nachbarschaftshilfe, digitalen Vernetzungen und nicht zuletzt auch bei der Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine.  

Dass Menschen ihre Gesundheit selbst in die Hand nehmen können und wollen, ist nicht selbstverständlich. Die Voraussetzungen dafür werden in der Charta bereits formuliert: „Kontinuierlicher Zugang zu allen Informationen, die Schaffung von gesundheitsorientierten Lernmöglichkeiten sowie angemessene finanzielle Unterstützung gemeinschaftlicher Initiativen“. Insbesondere der letzte Punkt zeigt sich immer wieder bei Projekten und Initiativen, die angestoßen werden und einer Implementierung in die Regelversorgung brauchen, um langfristig Wirkung entfalten zu können. So sind hier beispielsweise die Stadteilgesundheitszentren zu nennen, die sich bereits in einigen Städten, wie Hamburg oder Berlin etabliert haben. Aber auch die Regierung ist an einer Veränderung von Versorgungsformen, mit dem Ziel des Abbaus gesundheitlicher Chancengleichheit, interessiert. So ist im Koalitionsvertrag formuliert: „In besonders benachteiligten Kommunen und Stadtteilen (5 Prozent) errichten wir niedrigschwellige Beratungsangebote (z.B. Gesundheitskioske) für Behandlung und Prävention.“ (Koalitionsvertrag 2021-2025 zwischen der SPD, Bündnis 90/ Die Grünen und FDP) 

Zudem muss Gesundheitsförderung darin unterstützen, persönliche Kompetenzen zu entwickeln. 

Persönliche Kompetenzen sind von den aktuellen Herausforderungen in mehrfacher Hinsicht betroffen und gefordert. Die schnellen Veränderungen in der Gesellschaft haben teilweise zu völlig neuen Lebensrealitäten und Herausforderungen geführt, die es zu bewältigen gilt.

Der Digitalisierungsschub kann als ein Beispiel hierfür betrachtet werden. Nicht nur alltägliches, sondern auch Gesundheits- und Gesundheitsförderungsangebote wurden zunehmend digitalisiert. Neben Zugang zu Technik werden auch entsprechende Kompetenzen benötigt, um daran teilhaben zu können. Beides ist in der Gesellschaft ungleich verteilt, wobei eine gering ausgeprägte Gesundheitskompetenz mit einem niedrigen sozioökonomischen Status einhergeht und nicht zuletzt mit einem schlechteren Gesundheitszustand. Menschen in benachteiligten Lebenslagen haben also strukturell schlechtere Voraussetzungen um (kompetent) auf neue Herausforderungen zu reagieren. Somit können Veränderungsprozesse, wie die voranschreitende Digitalisierung selbst dazu beitragen, die Ungleichheit noch weiter zu erhöhen, was es durch zielgruppengerechte Förderung von Zugang zu Technologien und Kompetenzen zu vermeiden gilt.

Auch die mentale Gesundheit nimmt in unbeständigen Krisenzeiten einen besonderen Stellenwert ein, wobei als Antwort darauf oft die Stärkung von Resilienz, im Sinne der psychischen Widerstandskraft, bemüht wird. Die Option Menschen dazu zu befähigen, besser mit schwierigen Belastungslagen umzugehen, ist grundsätzlich zu befürworten, birgt jedoch die Gefahr, psychische Probleme zu individualisieren, statt die Rahmenbedingungen in den Blick zu nehmen

Vorrangig sollten immer gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in den Blick genommen und so gestaltet werden, dass alle die gleichen Gesundheitschancen haben. Die Förderung persönlicher Kompetenzen darf nicht als Ausrede dafür dienen, Gesundheit und Krankheit zu individualisieren, sondern muss als Baustein betrachtet werden, um der Ungleichheit etwas entgegenzusetzen. Zudem gilt es zu erkennen, wo hinderliche Systeme durch das Streben und die Forderung nach Kompetenzentwicklung ggf. sogar gestärkt werden. Dies, sowie die Fähigkeit, etwas an krankmachenden Verhältnissen und Ursachen für diese Ungleichheit zu ändern, ist eine wichtige Kompetenz, die es zu stärken gilt, und zwar für Betroffene, sowie Expert*innen.

Damit einhergehend gilt es beispielsweise auch die Akademisierung der Gesundheitsfachberufe, bei der Deutschland weit zurück liegt, voranzubringen (Geschäftsstelle des Wissenschaftsrats 2022).  

Als letztes Handlungsfeld wird die Neuorientierung der Gesundheitsdienste benannt. Hier wurde in den vergangenen Jahren über den Pakt für den ÖGD gewaltige Veränderungen angestoßen, die es weiter auszubauen gilt.  

Laut Ottawa Charta liegt die Verantwortung für Gesundheitsförderung nicht allein beim Individuum, sondern wird als Gemeinschaftsaufgabe von Gesundheitsdiensten, Gesundheitseinrichtungen und dem Staat verstanden. 1986 lag der Fokus insbesondere auf einer Neuorientierung hin zu einer Versorgung, die die „Bedürfnisse des Menschen als ganzheitliche Persönlichkeit ermöglichen“ und somit auch die bessere Koordination mit anderen sozialen, politischen und ökonomischen Sektoren umfasst. Diese Bestrebungen sind nach wie vor aktuell. Nach zwei Jahren Pandemiegeschehen stehen die Gesundheitsdienste allerdings vor vielen neuen Herausforderungen: Fachkräftemangel, Digitalisierung, Multimorbidität und veränderte Patient*innen-Bedarfe seien hier nur als Stichworte genannt.  

Der Virus warf die Frage auf, wie krisentauglich unser deutsches Gesundheitssystem aufgestellt ist. Doch auch die kommenden Herausforderungen, wie Hitzewellen und Naturkatastrophen, benötigen ein Umdenken in der Versorgung. Nicht nur in der nachhaltigen Energieversorgung für Gesundheitseinrichtungen, sondern auch in Strategien zum Umgang mit einer steigenden Hitzebelastung oder des Vorbereitetseins auf Problemwetterlagen.  

Mit dem Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst wurde bereits ein wichtiger Schritt in Richtung Zukunft gegangen. Die beiden Schlüsselstellen Personal und Digitalisierung finanziell zu fördern, um so die Gesundheitsämter zu modernisieren und als attraktive Arbeitgebende auszustatten, wurde großteils begrüßt. Der öffentliche Gesundheitsdienst ist dabei weitaus mehr als Infektionsschutz, sondern ihm sollte die Rolle eines kommunalen Akteurs zur Bekämpfung gesundheitlicher Ungleichheit zukommen (Kooperationsverbund gesundheitliche Chancengleichheit 2022).  

„Deutschland steht bei der Digitalisierung des Gesundheitssystems weit hinter anderen Ländern zurück“, ist der erste Satz, der in der Zusammenfassung des Gutachtens des Sachverständigenrats für Gesundheit 2021 zu lesen ist (SVR 2021). Pandemiebedingt lassen sich zwar auch im Gesundheitssektor deutliche digitale Fortschritte erkennen, allerdings scheint das Potential noch nicht vollumfänglich ausgeschöpft (ebd.).  

Im Hinblick auf veränderte Patient*innen-Bedarfe, eine steigende Lebenserwartung und damit verbundenen Zunahme der Multimorbidität müssen auch Anpassungen in der Aus- und Weiterbildung von Gesundheitspersonal vorgenommen werden. Insbesondere die interprofessionelle Zusammenarbeit ist in den Fokus zu rücken (Walkenhorst et al., 2015). Neben der Erhöhung der Attraktivität der Gesundheitsberufe muss zudem massiv in die personelle Aufstockung investiert werden.  

Aufruf zur Beteiligung

So hoffnungsvoll der Resilienz-Ansatz stimmen mag, bleibt festzuhalten: „Die Resilienz sozialer Systeme basiert primär auf (politischer) Macht, mit deren Hilfe die etablierten Strukturen trotz ihrer gesellschaftlichen Umstrittenheit aufrechterhalten werden können“ (Rungius et al. 2018, S. 54). Somit kann die Widerstandsfähigkeit, die dem Ansatz innewohnt, auch als Anforderung interpretiert werden, politisch Widerstand zu leisten, gegen nicht legitimierbare Systeme und Zustände wie die immer größer werdende Ungleichheit und entsprechende Anpassungen herbeizuführen. Dazu braucht es Vernetzung, Kommunikation und Transparenz. Im Sinne der Redundanzen braucht es jedoch mehrere Strategien, die sich gegenseitig unterstützen können. 

Wir laden Vertreter*innen aus Praxis und Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Politik dazu ein, sich an der Gestaltung des Kongressprogrammes 2023 zu beteiligen! Wir möchten Sie dazu ermutigen, Ihr Wissen und Ihre Erfahrungen aktiv einzubringen!

Eine Übersicht der Kriterien, nach denen die eingehenden Beiträge bewertet werden, findet sich unter www.armut-und-gesundheit.de/kongress-2023/auswahlverfahren. Wichtig ist uns dabei der Bezug auf sozial bedingte gesundheitliche Ungleichheiten und die Berücksichtigung der Perspektive von Menschen mit Armutserfahrung.  Auch ressortübergreifende sowie – wo immer möglich – partizipative Ansätze sowie die Aktualität der Beiträge sind für die Bewertung durch die Programmkomitees relevant.

Wir freuen uns auf vielfältige Beiträge bis zum 9.9.2022 und laden euch und Sie dazu ein, Ideen zu teilen, zu diskutieren, gemeinsam Stärken zu entwickeln (und zu feiern) und den Herausforderungen unserer Zeit gemeinsam wirksame und nachhaltige Strategien entgegenzusetzen!

Literatur 

Becker, Karina; Bose, Sophie; Dörre, Klaus; Rosa, Hartmut; Seyd, Benjamin (2019): Editorial S. V-X. In: Becker, Karina; Bose, Sophie; Dörre, Klaus; Rosa, Hartmut; Seyd, Benjamin (Hrsg.): Große Transformation? Zur Zukunft moderner Gesellschaften. Sonderband des Berliner Journals für Soziologie. Springer VS. Wiesbaden. 

Bobar, Amra; Winder, Gordon (2018): Der Begriff der Resilienz in der Humangeographie. In: Karidi, Maria: Schneider, Martin; Gutwald Rebecca (Hrsg.) (2018): Resilienz. Interdisziplinäre Perspektiven zu Wandel und Transformation. S. 83-102. Springer VS. Wiesbaden 

Butterwegge, Christoph (2022a): Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona. Beltz Juventa. Weinheim Basel 

Butterwegge, Christoph (2022b): Folgen des Ukraine-Kriegs: Wie muss die Politik auf Preiserhöhungen reagieren? Erschienen am 7.4.2022 In: Marc-Julien Heinsch (SWR). Armutsforscher Christoph Butterwegge im Interview. Online verfügbar unter: www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/interview-armutsforscher-butterwegge-steigende-preise-armut-kinder-in-bw-100.html  

Christmann, Gabriela; Ibert, Oliver; Kilper, Heiderose (2018): Resilienz und resiliente Städte. In: Jäger, Thomas; Daun, Anna; Freudenberg, Dirk (Hrsg.) (2018): Politisches Krisenmanagement. Band 2: Reaktion – Partizipation – Resilienz. S. 183-196. Springer VS. Wiesbaden 

Geschäftsstelle des Wissenschaftsrats (2022): Heterogene Dynamik der hochschulischen Qualifizierung für Gesundheitsfachkräfte. Pressemitteilung 13.2022. Veröffentlicht am 31.05.2022. Online verfügbar unter: www.wissenschaftsrat.de/download/2022/pm_1322.pdf?__blob=publicationFile&v=7 

Gutwald Rebecca (Hrsg.) (2018): Resilienz. Interdisziplinäre Perspektiven zu Wandel und Transformation. S. 33-60. Springer VS. Wiesbaden 

Hoebel, Jens; Haller, Sebastian; Bartig, Susanne; Michalski, Niels; Marquis, Adine; Diercke, Michaela; Schmid-Küpke, Nora; Wichmann, Ole; Sarma, Navina; Schaade, Lars; Hövener, Claudia (2022): Soziale Ungleichheit und COVID-19 in Deutschland – Wo stehen wir in der vierten Pandemiewelle? In: Epidemiologisches Bulletin 5|2022, 3-10. DOI 10.25646/9555. Online verfügbar unter: https://edoc.rki.de/bitstream/handle/176904/9363/EB-5-2022-Soziale%20Ungleichheit%20und%20COVID-19%20in%20Deutschland.pdf?sequence=1&isAllowed=y  

Intergovernmental Panel on Climate Chance (IPCC), Summary for Policymakers, in Climate Change (2022): Impacts, Adaptation, and Vulnerability. Contribution of Working Group II to the Sixth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change, D.C.R. H.-O. Pörtner, E.S. Poloczanska, K. Mintenbeck, M. Tignor, A. Alegría, M. Craig, S. Langsdorf, S. Löschke, V. Möller, A. Okem,, Editor. 2022: Cambridge University Press. In press. Zitiert nach: Centre für Planetary Health Policy (Hrsg.) (2022): Gesundheit innerhalb planetarer Grenzen. Offene Fragen an Politik, Wissenschaft und Gesundheitsakteure. Policy Brief 01-2022. DOI: 10.5281/zenodo.6642685. Baltruks, Dorothea; Gepp, Sophie; Van den Pas, Remco; Voss, Maike; Wabnitz, Katharina. Online verfügbar unter: https://cphp-berlin.de/wp-content/uploads/2022/06/CPHP_Policy-Brief_01-2022.pdf  

Koalitionsvertrag 2021-2025 zwischen der SPD, Bündnis 90/ Die Grünen und FDP (2021): Verfügbar unter: www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf 

Meyen, Michael; Vogt, Markus (2018): Vorwort. Reflexive Resilienz: Der Beitrag des Bayerischen Forschungsverbundes ForChange zum Resilienzdiskurs. In: Karidi, Maria: Schneider, Martin; Gutwald Rebecca (Hrsg.) (2018): Resilienz. Interdisziplinäre Perspektiven zu Wandel und Transformation. S. IX-XIII. Springer VS. Wiesbaden 

Oxfam (2022): Inequality Kills. The unparalleled action needed to combat unprecedented inequality in the wake of COVID-19. Online verfügbar unter: www.oxfam.de/system/files/documents/inequality_kills_en_web.pdf  

Roth, Florian (2020): Bouncing forward – Wie Erkenntnisse aus der Resilienzforschung in der Corona-Krise helfen können. Frauenhofer-Institut für System- und Innovationsforschung. Online verfügbar unter: www.isi.fraunhofer.de/de/blog/2020/resilienz-corona-krise.html  

Rungius, Charlotte; Schneider, Elke; Weller, Christoph (2018): Resilienz – Macht – Hoffnung. Der Resilienzbegriff als diskursive Verarbeitung einer verunsichernden Moderne. In: Karidi, Maria: Schneider, Martin;  

Sachverständigenrat für Gesundheit (SVR) (2021): Digitalisierung für Gesundheit. Ziele und Rahmenbedingungen eines dynamisch lernenden Gesundheitssystems. Online verfügbar unter: www.svr-gesundheit.de/fileadmin/Gutachten/Gutachten_2021/SVR_Gutachten_2021.pdf  

The Lancet (2020): The Lancet Countdown on health and climate change. Policy Brief für Deutschland 2020. Online verfügbar unter: https://klimagesund.de/wp-content/uploads/2020/12/Lancet-Countdown-Policy-Brief-Germany_DEU.pdf  

Walkenhorst, Ursula; Mahler, Cornelia; Aistleithner Regina; Hahn, Eckhart G; Kaap-Fröhlich, Sylivia; Reiber, Karin; Stock-Schröer, Beate; Sottas, Beat (2015): Positionspapier GMA-Ausschuss – „Interprofessionelle Ausbildung in den Gesundheitsberufen“. In: GMS Z Med Ausbild 2015;32(2): Doc22. Verfügbar unter: www.egms.de/static/de/journals/zma/2015-32/zma000964.shtml  

Weiß, Matthias; Hartmann, Silja; Högl, Martin (2018): Resilienz als Trendkonzept. Über Diffusion von Resilienz in Gesellschaft und Wissenschaft. In: Karidi, Maria: Schneider, Martin; Gutwald Rebecca (Hrsg.) (2018): Resilienz. Interdisziplinäre Perspektiven zu Wandel und Transformation. S. 13-32. Springer VS. Wiesbaden 

WHO (1986): Ottawa Charta zur Gesundheitsförderung. Verfügbar unter: www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0006/129534/Ottawa_Charter_G.pdf 

Zukunftsforum Public Health (2019): Health in All Policies – Entwicklungen, Schwerpunkte und Umsetzungsstrategien für Deutschland. Verfügbar unter: https://zukunftsforum-public-health.de/download/health-in-all-policies-entwicklungen-schwerpunkte-und-umsetzungsstrategien-fuer-deuschland/?wpdmdl=2770&refresh=62a8b3eb0d8871655223275). 

 

 

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